Fremd(e) – Faszination, Ablehnung, Anverwandlung

"Fremd(e) – Faszination, Ablehnung, Anverwandlung": Jahrestagung des Historischen Instituts an der Universität Paderborn

Organisatoren
Eva-Maria Seng / Maria Harnack, Materielles und Immaterielles Kulturerbe, Universität Paderborn; Frank Göttmann, Historisches Institut, Universität Paderborn
Veranstaltungsort
Universität Paderborn, Hörsaal O 1
PLZ
33098
Ort
Paderborn
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
04.11.2023 -
Von
Paul Duschner, Materielles und Immaterielles Kulturerbe, Universität Paderborn

Am 4.11.2023 fand die 30. Jahrestagung des Historischen Instituts an der Universität Paderborn unter dem Titel „Fremd(e) – Faszination, Ablehnung, Anverwandlung“ statt. Entsprechend der Vielfalt wissenschaftlicher Perspektiven und Fragestellungen sowie methodischer Zugänge zu diesem Thema, entstammten die Referierenden unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Die Vorträge, an die sich jeweils lebendige Plenumsdiskussionen anschlossen, wurden gehalten von Christin Hansen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Paderborn, Britt-Marie Schuster, Professorin für Germanistische und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Paderborn, Eve-Marie Becker, Professorin für Neues Testament an der Universität Münster, Klaus-Michael Bogdal, Professor i.R. für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, Christin Fleige, wissenschaftliche Volontärin am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, Korinna Schönhärl, Professorin für Neure und Neuste Geschichte an der Universität Paderborn, Robin Leipold, wissenschaftlicher Direktor des Karl-May-Museums in Radebeul und Bettina Wahrig, Professorin für Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte an der Technischen Universität Braunschweig.

Eva-Maria Seng, Inhaberin des Lehrstuhls für Materielles und Immaterielles Kulturerbe an der Universität Paderborn, begrüßte Referierende und Teilnehmende und stellte das Programm der Tagung vor. Diese behandle ein urmenschliches Thema. So hätten alle Kulturen ihre Vorstellungen vom „Fremden“ entwickelt. Dabei sei nichts aus sich heraus „fremd“, sondern werde in Abgrenzung zur eigenen Identität als solches definiert. Das geschehe nicht nur mit Blick auf andere Menschen, sondern zum Beispiel auch gegenüber Tieren. Der Umgang mit dem „Fremden“ oszilliere zwischen Polen wie Toleranz und Ausgrenzung, Faszination und Abwehr. Er könne den Ausgangspunkt für Wandlungs- und Transformationsprozesse bilden. In ihrem Grußwort betonte die Präsidentin der Universität Paderborn, Birgitt Riegraf, die Wichtigkeit der Befassung mit dem gesellschaftlich hoch relevanten Themenkomplex „Fremde“ sowie die Bedeutung der jährlich stattfindenden Tagungen für Geschichte als einer Plattform der Kommunikation und Vernetzung von Wissenschaftlern und einer interessierten Öffentlichkeit.

Im ersten Vortrag präsentierte CHRISTIN HANSEN (Paderborn) einige grundsätzliche Überlegungen zum „Phänomen des Fremden in der Geschichtswissenschaft“. Definitionen des „Fremden“ seien stets zeit- und ortsabhängig. Sie könnten von Individuen und von Gruppen vorgenommen werden. Ausgehend vom jeweiligen Selbstverständnis, würde ein Verhältnis der Differenz beschrieben, wobei das Andere nicht zwangsläufig als das „Fremde“ angesehen werde. Ebenso müsse die Begegnung mit dem „Fremden“ nicht zu Ablehnung und Ausgrenzung führen. Sie könnte auch den Ausgangspunkt für Neugierde, Selbstreflexion, Inklusions- und Identitätsbildungsprozesse und für kulturelle Aneignungen bilden. Eine Möglichkeit, das „Fremde“ begreif- und handhabbar zu machen, sei die Konstruktion von orientierungsgebenden konfessionellen, kulturellen oder nationalen Stereotypen. Einmal etabliert, könnten sich diese als sehr langlebig erweisen, da sie Wahrnehmungs- und Handlungsmuster beeinflussen würden. Ihre Ausführungen verdeutlichte Hansen anhand von Auszügen des Reiseberichts von Nāser ad-Din Schāh, der im späten 19. Jahrhundert europäische Fürstenhöfe besucht hatte, sowie aus ethnographischen Beschreibungen Ida Pfeiffers über die indigenen Völker Nordamerikas.

Die Germanistin BRITT-MARIE SCHUSTER (Paderborn) widmete sich dem Tagungsthema aus der Perspektive der Sprachwissenschaften. In ihrem Vortrag über „Der, die, das Fremde: Diskurslinguistische Perspektiven am Beispiel von aktuellen (Post)Migrationsdiskursen“ beleuchtete sie den Diskurs um Migration in Deutschland von den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart und ging dabei der Frage nach, wie das Lexem „(der, die, das) Fremde“ verwendet wurde und wie sich aus diesen Verwendungsweisen ein Konzept des Fremden erschließen lasse. Das Material für ihre Analyse bildeten Plenarprotokolle von Bundestagsdebatten, Zeitungen oder soziale Medien. Schuster zeigte, wie sich durch die Untersuchung von Kookkurrenzen und wechselnden Konnotationen Bedeutungsverschiebungen des „Fremden“ erkennen ließen. Ein solcher Befund sei die bis in die 1970er-Jahre im Kontext der Politik vollzogene Verengung des Begriffs „Fremde“ auf Migranten, während vormals auch Touristen so bezeichnet werden konnten. Neben diesen Veränderungen wurde allerdings deutlich, dass Fremdheit konstant hinsichtlich einiger weniger Merkmale konzeptualisiert wird. Dieser Befund wurde anhand anderer Ausdrücke wie „Zuwanderer“, „Migrant“ und „Geflüchteter“ erhärtet. Von den genannten Traditionen des Schreibens über „Fremde“ hebt sich der gegenwärtige Diskurs in sozialen Medien ab, den Schuster durch den besonders scharf gezeichneten Kontrast zwischen „Eigenem“ und „Fremden“ und die Beschreibung von Migranten als Eindringlinge charakterisiert sieht.

Die evangelische Theologin EVE-MARIE BECKER (Münster) erörterte die Frage: „Jesus von Nazareth und die Frage nach ‚dem/der Anderen‘“ anhand der im Lukasevangelium überlieferten Beispielerzählung vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10). Ob sich diese Beispielerzählung, die sich einzig bei Lukas rund 70 Jahre nach dem Leben und Wirken Jesu findet, auf die Verkündigung des historischen Jesus zurückführen lasse, sei nicht abschließend in der Forschung geklärt. Nach einer Annäherung an die Thematik dieses für die christliche Ethik zentralen Textes, präsentierte Becker eine exegetische Analyse von Lk 10,25-37. Historischer Kontext der Szene sei das von teils offener Feindschaft geprägte Schisma zwischen Juden und Samaritanern, einer Gruppe dissidenter Jerusalemer Priester, die sich als die wahren Befolger der Tora verstanden. Den Rahmen der Beispielerzählung bildet im Lukasevangelium ein Lehrgespräch Jesu (nach Markus 12), das nunmehr Jesus auf seiner eigenen Reise nach Jerusalem zeigt. Lehrgespräch und Beispielerzählung behandelten drei Fragen: die nach der Bedeutung von Kultus und Schriftauslegung, nach dem Doppelgebot der Liebe und nach dem Wesen und der praktischen Bedeutung der jesuanischen Liebes-Ethik. Aus der Erzählung ließe sich ableiten, dass für Jesus - im Lichte lukanischer Deutung - eine durch praktische Taten ausgedrückte Liebe das Gesetz erfülle, dem Liebesgebot nachkomme und so vollumfänglich Schriftauslegung leiste und letztlich wichtiger sei als der Kultus. Die Beispielerzählung stehe deshalb für eine nicht-exklusive Begegnung mit „Anderen“, die sich in praktischen Taten der Barmherzigkeit realisiere.

KLAUS-MICHAEL BOGDAL (Bielefeld), Germanist und Autor des preisgekrönten Werks „Europa erfindet die Zigeuner“ referierte über „Historische Erscheinungsformen des Antiziganismus bis zur Gegenwart“. In der heutigen Erinnerungskultur sei dem Antiziganismus keine dem Antisemitismus vergleichbare öffentliche Aufmerksamkeit zuteil geworden. Der Völkermord während der NS-Diktatur sei lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen worden. Vielmehr habe es nach 1945 eine zweite Welle der Verfolgung gegeben. Der Antiziganismus sei ein 600-jähriges Phänomen, basierend auf der Erzählung, dass es sich bei den „Zigeunern“ um ein primitives, nicht-integrierbares Volk inmitten der europäischen Kulturvölker handle. Dessen Fremdheit wurde mit wechselnden, sich historisch wie inhaltlich aber überlagernden Begründungen immer wieder aufs Neue konstruiert. Es ließen sich daher sieben Erscheinungsformen des Antiziganismus seit Mitte des 15. Jahrhunderts unterscheiden, die Bogdal als kulturellen, religiösen, politisch-nationalistischen, sozialen, wissenschaftlichen, romantischen und rassistischen Antiziganismus bezeichnete. Ein Merkmal des wissenschaftlichen Antiziganismus von Vertretern der Aufklärung oder der Ethnologie des 19. Jahrhunderts sei die fehlende Bereitschaft gewesen, überkommene Vorannahmen kritisch zu reflektieren. Der biologische Rassismus, der sich sowohl wissenschaftlich als auch politisch seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neben den Juden auch den Sinti und Roma zuwandte, vertrat die Vorstellung, dass sie wie diese eine „minderwertige Rasse“ darstellen würden. Diese gruppenbezogene Ausprägung des Rassismus wurde handlungsleitend für staatliche Politik und das Verhalten der meisten Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft.

In ihrem Vortrag behandelte CHRISTIN FLEIGE (Nürnberg) „‘Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges.‘ Völkerschauen und die Schaulust am Fremden“. Durch den Hamburger Zoo-Unternehmer Carl Hagenbeck geprägt, habe es Völkerschauen zur Hochphase des Kolonialismus in Europa, den USA und Russland gegeben, ehe sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend durch Film, Rundfunk und Fernreisen abgelöst wurden. Auch für Westfalen-Lippe ließen sie sich nachweisen, zum Beispiel im Kontext des Paderborner Libori Festes. Aufschluss über die Völkerschauen mit ihren Inszenierungen und Vorführungen gäben unter anderem Plakate sowie die zeitgenössische Berichterstattung, da Pressearbeit ein fester Teil der Werbestrategie war. So wurden Völkerschauen als Sehenswürdigkeiten beworben, die ihre Besucher unterhalten und belehren sollten. Zwar wurde der Anspruch auf Authentizität und Wissenschaftlichkeit erhoben und es kam zur Zusammenarbeit zwischen den kommerziell motivierten Ausstellungsmachern und Anthropologen. Die Inszenierung der „Fremden“ orientierte sich aber an rassistischen Stereotypen. Zum Beispiel wurden die Bewohner von Samoa, das in Europa als „Perle der Südsee“ galt, als naturverbunden, anmutig und von kindlicher Mentalität präsentiert, afrikanische Gruppen hingegen als primitiv, wild und kriegerisch.

„Griechenland: Wiege der Zivilisation oder Grab der Investition? Europäische Wahrnehmungen und Stereotypen seit dem 19. Jahrhundert“ war Thema des Vortrags von KORINNA SCHÖNHÄRL (Paderborn). Dass deutsche Wahrnehmungen von Griechenland von Stereotypen geprägt waren und sind, machte die Referentin zunächst anhand von Abbildungen aus der Finanzkrise ab 2009 deutlich. Aber die deutschen Griechenlandbilder oszillierten bereits im 19. Jahrhundert zwischen Bewunderung für das Land als Wiege der europäischen Kultur einerseits und Ablehnung des als orientalisch-fremd empfundenen Balkanlandes andererseits. Dem aus Antikenbegeisterung, christlicher Solidarität und Sympathie für das mit der griechischen Unabhängigkeit 1830 erfolgreiche Nationalprojekt gespeisten Philhellenismus stand deshalb eine große Skepsis im Hinblick auf wirtschaftliches Engagement in dem jungen Nationalstaat gegenüber. Dies verdeutlichte Schönhärl am Beispiel der in Paris und München tätigen Bankiersfamilie d´Eichthal, deren Sproß Gustave das Land auf der Suche nach lohnenden Investitionsprojekten bereiste. Letztlich entschied sich die Familie aber gegen Investitionen in Griechenland und legitimierte diese Ablehnung mit der angeblichen Fremde und weiten Entfernung des Landes. Der tatsächliche Grund dürfte allerdings die von den Bankiers wahrgenommenen Unzulänglichkeiten der Regierung König Ottos gewesen sein.

ROBIN LEIPOLD (Radebeul) referierte über „Die Deutschen und ‚ihre Indianer‘ – auf den Spuren eines Phänomens“. Bei dem Begriff „Indianer“ handle es sich um eine über Jahrhunderte etablierte Fremdbezeichnung. Sie verweise auf einen kulturellen Stereotyp, zu dessen Komponenten Federn, Tipis, Manitu, Marterpfähle und Tomahawks gehörten und der im Zuge der „Winnetou-Debatte“ 2022 in die Kritik geraten war. Zu Zeiten Karl Mays hatte das Interesse an „Indianern“ in Deutschland bereits Tradition. Ein erster „Indianerroman“ war 1802 erschienen. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert traten „Show-Indianer“ auf Wildwest Shows auf. Deutsche betätigten sich als „Hobby-Indianer“, zum Beispiel im Rahmen des 1913 gegründeten Cowboy-Clubs in München. Privatsammler wie Patty Frank trugen „indianische“ Kunst- und Alltagsgegenstände zusammen. Seine Sammlung bildete den Grundstock für das 1828 eröffnete Karl-May-Museum in Radebeul. Im „3. Reich“ wurden die Werke Karl Mays ideologiekonform umgeschrieben, die nach ihm benannten Spiele 1938 als „Volksfestspiele“ inszeniert. In der DDR existierten über 50 „Indianistik-Clubs“, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben. Potentielle Mitglieder mussten einschlägige Kenntnisse nachweisen. Heute versuche das Karl-May-Museum, Begegnung zu ermöglichen und Brücken zwischen „echten“ und „Hobby-Indianern“ zu bauen.

Im letzten Vortrag des Tages referierte BETTINA WAHRIG (Braunschweig) über „Farbe – Zauber – Gift – Arznei: Stoffe und ihre Geschichten in internationaler Perspektive“. Dabei bezogen sich ihre Ausführungen auf die an der Technischen Universität Braunschweig aus Beständen der dortigen Arzneimittelhistorischen Sammlung realisierten Ausstellung „Pharmakon“. Die aus dem Alt-Griechischen stammende Bezeichnung könne mit „Arznei“, „Zaubermittel“, „Gift“ oder „Farbe“ übersetzt werden. Tatsächlich hatten die so bezeichneten Substanzen, die teils aus fernen Ländern nach Europa gelangten, im Laufe ihrer Nutzungsgeschichte verschiedenste Funktionen. Diese erläuterte Wahrig an ausgewählten Beispielen wie dem Berliner Blau, Eisen(III)-hexacyanidoferrat(II/III). Dieses entstand durch eine Verwechslung zweier Reagenzien statt der erwarteten roten Farbe aus Cochenille-Läusen. Diese waren von spanischen Eroberungen aus Mexiko eingeführt worden. Eine erste Anwendung in der Kunst lasse sich für das 1709 entstandene Gemälde „Grablegung Christi“ des niederländischen Malers Pieter van der Werff nachweisen. Im 19. Jahrhundert sei Berliner Blau medizinisch genutzt worden. Bis heute diene es als Antidot bei Vergiftungen. Die ambivalente Rolle mancher Stoffe, die als Heilmittel wie auch als Gift fungieren könnten, diskutierte Wahrig am Beispiel des Arsens.

In der abschließenden Plenumsdiskussion wurde von den Diskutanten der Bezug zur Jahrestagung 2021 „Was ist Heimat?“ hergestellt. So gäbe es thematische und begriffliche Berührungspunkte, da beide Tagungen das Thema Alterität aus der jeweils entgegengesetzten Perspektiven behandelt hätten.

Konferenzübersicht:

Birgitt Riegraf (Paderborn): Grußwort als Videobotschaft

Christin Hansen (Paderborn): Wir, Ihr, Sie – Das Phänomen des Fremden in der Geschichtswissenschaft

Britt-Marie Schuster (Paderborn): Der, die, das Fremde: Diskurslinguistische Perspektiven am Beispiel von aktuellen (Post)Migrationsdiskursen

Eve-Marie Becker (Münster): „Und wer ist mein Nächster?“ (Lk 10,29) Jesus von Nazareth und die Frage nach „dem/der Anderen“

Klaus-Michael Bogdal (Bielefeld): Historische Erscheinungsformen des Antiziganismus bis zur Gegenwart

Christin Fleige (Nürnberg): „Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges“. Völkerschauen und die Schaulust am Fremden

Korinna Schönhärl (Paderborn): Griechenland: Wiege der Zivilisation oder Grab der Investition? Europäische Wahrnehmungen und Stereotype seit dem 19. Jahrhundert

Robin Leipold (Radebeul): Die Deutschen und „ihre Indianer“ – auf den Spuren eines Phänomens

Bettina Wahrig (Braunschweig): Pharmakon. Farbe – Zauber – Gift – Arznei: Stoffe und ihre Geschichten in internationaler Perspektive

Abschlussdiskussion